Reiseblog Teil 1

Leinen los! In einer Nussschale Richtung Meer

Dürer war hier. In Aachen. Im Rahmen einer Reise (1520/21), die bereits er selbst zur Legende machte. Im Wortsinn (vom lateinischen legere = lesen, das zu Lesende). Denn er brachte sie nicht nur zeichnend, sondern auch schreibend zu Papier.

Seine Notizen gehören zu den frühesten überlieferten Reisebeschreibungen eines Künstlers überhaupt. Die Originalschrift ging zwar verloren. Doch dank zweier Abschriften können wir die Erlebnisse des reisenden Renaissance-Stars noch heute „miterleben“.

Starten wir unsere Zeitreise im Hier und Jetzt. Oberes Feld: Albrecht-Dürer-Haus, Nürnberg. Unteres Feld: Wolstraat 19, Antwerpen. Ein Klick aufs Auto-Symbol und Google Maps prognostiziert knapp 6,5 Stunden für 613 staufreie Kilometer. Ein halbes Stündchen mehr braucht man mit verspätungsfreien Bahnen über Frankfurt und Brüssel. Und ein Flugportal schlägt einen Umstieg in Amsterdam vor, 4,5 Stunden Flugzeit plus ÖPNV und Check-in-Vorlauf.

So selbstverständlich ist das heute mit dem Reisen. Oder war es, bis Corona kam, doch das ist eine andere Geschichte.

Diese Geschichte spielt sich noch 300 Jahre vor der Erfindung des Fahrrads ab (34 Stunden laut Google Maps). Und diese Geschichte handelt von Mobilität ganz anderer Art. Denn Dürer verstand es wie kaum ein Künstler vor ihm, die Grenzen von Zeit und Raum zu überwinden. Wohin er auch reiste: Sein Ruhm eilte ihm voraus. Mehr noch – wo er auch war, heißt es bis heute: Dürer war hier.

Bevor wir in den nächsten Teilen dieser Serie zeigen werden, welchen Ruf Dürer an allen seinen Reiseorten schon vor seiner Ankunft genoss, noch ein Blick aufs Heute. „Superstar der europäischen Kunst macht in Wertheim Halt“, titeln die Fränkischen Nachrichten am 23. Juli 2020. Zwar habe Dürer, als er „vor 500 Jahren an die Taubermündung kam, (…) Wertheim entweder nicht reizvoll genug“ gefunden, „um zum Stift zu greifen, oder es mangelte ihm ganz einfach an Zeit“. Doch: Nicht einmal ein kleines Postkartenmotiv musste der große Künstler auf Durchreise hinterlassen, um noch 500 Jahre später für eine dicke Schlagzeile zu sorgen.

„Der vielgewundene Main, damals noch ungezähmt und mit zahlreichen, Untiefen, Stromschnellen, sumpfigen Uferstreifen und unkalkulierbaren Hochwässern war nicht vergleichbar mit dem heute kanalisierten und gemächlich dahinströmenden Gewässer“ , beschreibt die Zeitung die „Fahrt auf unserem Mainabschnitt“ – „auf der schwankenden Nussschale“.

Und damit Leinen los und mit Dürer auf zum damaligen Tor zur Welt: Antwerpen. Es ist der 12. Juli 1520. Ein weiter und beschwerlicher Weg liegt vor Dürer, seiner Frau Agnes und ihrer Magd Susanna. Zwar gibt es Handelsrouten und Pilgerwege, doch die zurückzulegende Strecke dürfte bis zu 250 Kilometer länger sein als das heutige Autobahn- oder Schienennetz. Benötigt man heute einen Arbeitstag, sind die Dürers 22 Tage unterwegs. Mal in der Kutsche, mal auf dem Schiff (Main, Rhein, Maas).

Die erste „Nussschale“ besteigt die Reisegesellschaft in Bamberg. An einem heutigen Uni-Gebäude wird an den Aufenthalt erinnert: „Haus zum Wilden Mann, jahrhundertelang Gasthaus, in dem Albrecht Dürer wiederholt so auch auf seiner Reise in die Niederlande Jun 1520 wohnte“. Die Übernachtung im Wilden Mann spendiert ein frommer solcher. Der Bamberger Bischof stellt obendrein einen Brief zur Befreiung von Zollabgaben aus. Dürer revanchiert sich mit Werken aus seinem mit Kunst reichlich gefüllten Reisegepäck, etwa einem Marienbild.

Ob er später trotzdem Grund zum Beichten verspüren soll? An der Trierischen Zollschranke in Boppard jedenfalls muss Dürer schriftlich bezeugen, dass er keine gewöhnliche Kaufmannsware bei sich führt. Dabei wird er die mitgeführte Kunst – eigene Grafik und Blätter seiner ehemaligen Mitarbeiter Hans Schäufelin und Hans Baldung Grien – auf der Reise mit und mit verkaufen. Für insgesamt 106 Gulden, rechnet der Kunsthistoriker Gerd Unverfehrt nach und urteilt: „Wir ertappen Dürer als Schmuggler.“

Vielleicht geht es Dürer aber auch schlicht und einfach gegen den Strich, seine Stiche als „gewöhnliche Handelsware“ zu deklarieren. Leider ist nicht überliefert, welches Gesicht seine Frau macht, als Dürer der Vermutung des Zöllners vehement widerspricht. Denn Agnes ist die Expertin in solchen Dingen. Man kann sie Kunsthändlerin nennen. Sie reist regelmäßig zu den Messen – etwa nach Frankfurt – und hat so erheblichen Anteil an der Verbreitung des Ruhmes ihres Albrechts. Vermutlich kennt Agnes daher die Bediensteten an der nächsten der zahlreichen Zollstationen. In Lahnstein ist man so erfreut über das Wiedersehen, dass es statt misstrauischer Nachfragen eine Kanne Wein aufs Schiff gibt.

Und zu Wein sagt Dürer nicht… Ach, machen Sie sich selbst einen Reim drauf. Macht Dürer auch – im übertragenen Sinne. Denn offensichtlich ist er Sprach- und Dialektliebhaber. Neben Zollstellen, passierten Orten, getroffenen Personen, gemachten und erhaltenen Geschenken sowie Ein- und Ausgaben notiert der Künstler von Zeit zu Zeit Schreibweisen oder Aussprachen. Ob die Macher der „Sendung mit der Maus“ für ihren Vorspann bei Dürer abgekupfert haben? „Danach kamen wir gen Engers und wieß mein zol prieff, das ist Trierisch“ klingt jedenfalls ganz so wie der legendäre Kindersendungssatz nach dem wechselnd fremdsprachigen Intro: „Das war…“

Apropos war: Wie war das mit dem Wein? Proste und schreibe vierzehn Mal erwähnt Dürer den Traubentrunk alleine in seinen Notizen zu den ersten 22 Reisetagen. Zwölf Mal gibt es den Wein als Geschenk und Ehrerweisung, zwei Mal zahlt Dürer selbst. Was sagt uns das? Nun, selbstverständlich ist Wein zu jener Zeit etwas anderes als heute, weil alkoholhaltige Getränke eine sicherere Alternative zu möglicherweise verunreinigtem Wasser darstellen. Als Ausweis von Geselligkeit lassen sich die Verweise aber ganz sicher auch lesen. Und noch etwas lässt sich aus dem Wein lesen: das Wetter. Oder, um wissenschaftlich genau zu sein: Es ist den Pflanzen abzulesen.

Phänologie nennt sich die Forschung. Und die bringt ans Sonnenlicht, dass Dürer in einer „ausgesprochen Warmphase“ reist. Als solche wird die Zeit „um 1520“ nämlich in einem Aufsatz namens „Weinbau im Klimawandel. Regionen im Umbruch“ ausgewiesen, zu finden im Klimastatusbericht 2009 des Deutschen Wetterdienstes. Wer sich fragt, ob bei einem geselligen Fläschchen Wein das Thema Wetter ein passendes Smalltalkthema für Gespräche mit Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker wäre: vielleicht eher nicht. Denn viele, viele haben sich in den zurückliegenden 500 Jahren mit Dürers Reise beschäftigt. Doch ob die Sonne schien und ob es warm war, das ist dort einfach nicht zu finden.

Was sich dagegen oft in der Fachliteratur zur Dürerschen Reiseliteratur findet, ist das Thema Geld als Reisegrund. Dürer, soviel ist sicher, verspricht sich von einigen der hochrangigen Damen und Herren, die er treffen wird, Fürsprache für einen dicken ausstehenden Batzen Bares. Er wartet auf 200 Gulden Honorar und zwei Raten einer jährlichen Leibrente von 100 Gulden. Das Honorar schuldet ihm der Kaiser. Die Leibrente schuldet ihm Nürnberg auf Geheiß des Kaisers. Doch der Kaiser ist tot. Und Dürers Heimatstadt hat seit dem Ableben Maximilians I. Anfang 1519 einfach den Geldhahn zugedreht. Das wurmt Dürer – obschon wohlhabend – mächtig.

Nun gilt es, bei den Mächtigen vorzusprechen, um mit mehr Macht im Rücken den alsbald Mächtigsten im Lande von seinem Anliegen zu überzeugen. Die Mächtigen sind die Habsburger. Dürer wird Margarete von Österreich aufsuchen, Statthalterin der Niederlande und Tochter Maximilians I. Der alsbald Mächtigste ist Margaretes Neffe und Maximilians I. Enkel Karl V. Dürer wird zu dessen Krönung nach Aachen reisen.

Doch – Stichwort Reisegrund – Dürer wird viel länger fern von Nürnberg bleiben als zum geldwerten Zwecke nötig, gar sinnvoll. Das ist doppelt und dreifach schön für uns. Denn erstens gibt die Reise für Kunstwissenschaftlerinnen und Kunstwissenschaftler auch nach 500 Jahren noch Rätsel auf, an deren Lösung sich bei Wein oder Wasser genüsslich knabbern lässt. Sprich: Dürer mag zwar „in einer Nussschale“ Richtung Meer gereist sein, doch Dürer „in a nutshell“ gibt es nicht. Er erzählt sich einfach nicht aus. Denn zweitens können wir mit Dürer für mehr als einen Sommer auf Reise gehen.

Was wiederum drittens bedeutet, dass wir – trotz der anderen Geschichte namens Corona – an unserer Festjahr-Geschichte festhalten können. „Dürer war hier“ sollte es ab dem 7. Oktober dieses Jahres im Suermondt-Ludig-Museum heißen. Exakt 500 Jahre nach seiner Ankunft in Aachen. Jetzt werden wir die Ausstellung am 18. Juli 2021 eröffnen. Auch das passt. Denn Dürer sagte nicht Tschö (das ist Öcher bzw. Aachener Platt). Er sagte „Auf Wiedersehen“ und kam im Juli 1521 –auf der Heimreise – wieder nach Aachen.

Bis dahin gibt es noch viel zu erzählen. Es wird legendär. Wir freuen uns darauf!